Alle wissen es
Alle wissen, dass Deutschland eine Welle unerwarteter Erkrankungen und Todesfälle erlebt. Politik und Justiz schauen jedoch weg. Wir leben im Übergang.
Der Anthropologe Robin Dunbar fand heraus, dass
der Mensch im Schnitt rund 50 gute Bekanntschaften hat und 1500 Gesichter unterscheiden kann. Die historisch typische Größe menschlicher Gemeinschaften (etwa Siedlungen oder wandernde Rotten) gibt er mit 150 an.
Wie viele Menschen bemerken also im Schnitt jemandes plötzliche schwere Erkrankung oder seinen unerwarteten Tod, und wie verbreitet sich eine solche Nachricht? Herzmuskelentzündungen und
bestimmte Krebsarten treten seit April 2021 stark vermehrt auf. Seitdem und bis Ende 2023 sind in Deutschland mehr als 120.000 Menschen über das statistisch zu erwartende Maß hinaus, also unerwartet, gestorben.
Nehmen wir an, jeder dieser Toten hatte vier Familienmitglieder und andere intime Vertraute. Dazu kommen langjährige Kontakte, die er regelmäßig traf, sagen wir zehn – das macht dann 14. Zählen wir 20 weitere Weggefährten wie Kollegen, Nachbarn und so weiter hinzu, so können wir plausibel mit 34 Personen rechnen, die einen unerwarteten Todesfall bemerken müssten. Diese Schätzung fällt nach Dunbar eher zu niedrig aus.
Sterben 120.000 Menschen unerwartet, so würden das demnach rund 4.000.000 Menschen direkt erfahren. Und unter den Erstinformierten dürfte es Netzwerküberlappungen geben, sodass manche von mehreren plötzlichen Todesfällen hören. Diese 4.000.000 werden ihren 14 intimen Vertrauten und langjährigen Bekannten davon berichten. Damit haben 56.000.000 (4.000.000 x 14) Bürger aus zweiter Hand erfahren, dass jemand unerwartet gestorben ist.
Es geht gerade um viel
Nur zehn der 20 weiteren Weggefährten sagen nach unserer vorsichtigen Rechnung den Todesfall weiter; 40.000.000 kommen damit zu den oben errechneten 56.000.000 Bürgern hinzu. Es ist rechnerisch also zusätzlich zu den 4.000.000 Erstinformierten 96.000.000-mal jemandem von einem Vertrauten gesagt worden, dass seit 2021 jemand unerwartet gestorben ist.
Über Details dieser Überschlagsrechnung mag man streiten. Klar ist: Wir leben in einem Land, das eine Welle unerwarteter Sterbefälle erlebt, die alle direkt oder vom Hörensagen miterleben. Alle wissen es. Ebenso im Falle des enormen Anstiegs mancher
Krankheitsdiagnosen seit April 2021, deren kommunikativen Radius wir hier nicht überschlagen müssen. Da nicht jeder unerwartet Erkrankte stirbt, würden die Zahlen noch größer als in voriger Rechnung. Alle wissen auch davon. Dennoch spielt die Häufung von Todesfällen und einst seltenen Krankheiten in Politik und Justiz fast keine Rolle. Der Zeitraum seit April 2021 ist deshalb epochemachend für Deutschland. Ein politischer Übergang hat begonnen und kann unterschiedlich enden.
Alle wissen, dass Deutschland eine Welle unerwarteter Erkrankungen und Todesfälle erlebt. Politik und Justiz schauen jedoch weg. Wir leben im Übergang.
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